


Eine hochinteressante Lesung bot die Pritzwalker Buchhandlung in der Marktstraße am Freitagabend. Grit Lemke, Buchautorin, Dokumentarfilmerin und auch sonst vielseitig kulturell engagiert, las aus ihrem neusten Buch „Die Kinder von Hoy“. Hoy – damit ist Hoyerswerda gemeint, die Heimatstadt von Grit Lemke. Diese Stadt war und ist etwas Besonderes. Das weiß man auch als Außenstehender. Im Buch wird vieles davon erzählt, warum das so ist. Als künstliche Stadt wurde Hoyerswerda praktisch rings um das in frühen DDR-Zeiten entstandene Energie-Kombinat Schwarze Pumpe auf dem Reissbrett geplant. Um den zunehmend verfallenen Kern eines kleinen Städtchens entstanden die riesigen Wohnsiedlungen der Energiearbeiter. Hier ging es immer um Energie. Alles war an der Arbeit in der Schwarzen Pumpe ausgerichtet. Die Schichtbusse, die Wege von und zum Betrieb waren der ständige Rythmus von Hoyerswerda. 72.000 Bewohner kamen mit der Zeit hierher, fast alle im gleichen Alter. Auch das etwas Einzigartiges. Hier gab es den Beruf, die Schulen, Kindergärten und moderne Wohnungen.
Und es gab natürlich die Menschen in der Stadt. Um sie geht es in dem wirklich interessanten Buch von Grit Lemke, ihre Geschichten von der Kindheit über die Schulzeit bis zum Arbeitsalltag und dem privaten Leben mit allen schönen und weniger feinen Momenten. Die Autorin spricht nicht nur von sich selbst, nein, sie lässt viele Hoyerswerdaer zu Wort kommen. Jugendfreunde, Kollegen und Menschen, die genau diese Zeiten miterlebt hatten. Auch ein Vertreter der mosambikanischen Vertragsarbeiter ist darunter, die damals genau wie Polen und Algerier zum Alltag des Sozialismus im Ort gehörten. Teilweise selbstorganisierte Jugendtreffs, Partylocations, wie man heute sagt und auch das ganz normale Leben der Einwohner werden im Buch „Die Kinder von Hoy“ anschaulich dargestellt. Vieles erinnerte die Zuhörer an die eigene Vergangenheit. So auch die geblümten Kittelschürzen, die fast jede Mama trug, der Rummel und die Stadtfeste.

Und dann kam die Wende. Das war ein tiefer Einschnitt für die Stadt. Ein Betrieb nach dem anderen schloss seine Pforten. Die Menschen verloren die Basis ihrer Existenz. Heute hat Hoyerswerda nur noch die Hälfte seiner ursprünglichen Einwohnerzahl. Eine Straßenzeile, ein Wohnqurtier nach dem anderen wurde abgerissen.
Dann kamen die Nazis. Oder besser gesagt, sie entwickelten sich aus dem entstehenden Elend. Einen alltäglichen, „kleinen“ Rassismus gab es auch schon im DDR-Alltag. Nun aber brauchte man Schuldige für den Niedergang. Aus dem Mosambikaner wurde plötzlich „Der Neger“ – und der musste nun „raus“. Im September 1991 standen bis zu 500 randalierende Rechte vor einem Vertragsarbeiterwohnheim und einem Haus, in dem Flüchtlinge untergebracht waren. Molotowcocktails flogen, die Stimmung erreichte Progromniveau. Die Sächsische Polizei war nicht gewillt den Bedrängten zu helfen. Eine Schande bis heute! Die Stadt Hoyerswerda tat sich lange schwer mit diesem dunklen Kapitel der Geschichte. Schweigen war die Devise. Erst vor einiger Zeit fanden sich Aktive, die diese Vorkommnisse aufarbeiten wollen. Ein neuer Bürgermeister unterstützt sie.
Diese Lesung war wirklich eindrucksvoll. Man wurde förmlich in die Stadtgeschichte und die Schicksale ihrer Bewohner hineingezogen. Das Buch – super, klasse und absolut lesenswert! Grit Lemkes „Kinder von Hoy“ ist ein echter Geheimtipp für gute und ergreifende Literatur über unser aller Geschichte und Erleben. Der Pritzwalker Buchhandlung kann man nur danken für die von ihr aufgelegte Lesungsreihe. So kommt wieder ein wichtiges Stück Kultur zu uns nach Pritzwalk. 20 aufmerksame Besucher waren ein Ausdruck dafür, daß dafür ein großer Bedarf besteht.
Hartmut Winkelmann / Fotos: PSZ
